Abstriche

Nobody said it was easy.

Ich denke oft darüber nach, was diese Pandemie eigentlich anrichtet. Was sie ganz speziell mit uns im Einzelnen macht. Mit mir. Mit dir.

Wenn ich mir mein großes, und doch erst siebenjähriges Kind anschaue, sehe ich Resignation, Frustration, Abgeklärtheit und keine Fragen mehr. Es ist, wie es ist. Und es gibt durchaus positive Seiten für ihn an dieser Situation. Das tägliche Anziehen und Rausgehen ist kein Zwang mehr. Man kann es machen, muss es aber nicht. Die Medienzeit hat sich verdoppelt, mindestens. Und wir Eltern sind gütiger, nachsichtiger geworden. Schließlich ist es eine schwierige Zeit und wir wollen nicht noch zusätzliche Auseinandersetzungen und Wunden schaffen.

Was dennoch auf der Strecke bleibt, sind die Beziehungen, das Miteinander. Wir sind ununterbrochen zusammen und sind es doch nicht. Wir hängen angebrochenen Gedanken und früheren Zeiten nach, oder schmieden im Kopf Pläne für „danach“, für später. Alles ist besser, bloß nicht im Hier und Jetzt ausharren. Doch genau das tun Kinder. Sie können gar nicht anders, als im Moment zu leben.

Ich merke, wie auch wir Erwachsenen langsam anfangen, zu resignieren, kaum noch Hoffnungsschimmer zulassen. Wir wagen es kaum, den nächsten Sommerurlaub zu planen oder etwas zu riskieren. Sicherheit ist das einzige, das zählt. Es hinterlässt Spuren, immer andere, unterschiedlich tief, doch sichtbar.

Dass während der Pandemie vor allem Familien (neben den Kulturschaffenden) vergessen und nicht ausreichend mitgedacht wurden und werden, ist mittlerweile vielen aufgefallen. Selbst meine Oma, die den zweiten Weltkrieg miterlebt hat und ihre Heimat verlassen musste, mit nichts außer ihrer Mutter und zwei Geschwistern, sagt inzwischen zu mir: „Ich beneide euch nicht. Ihr habt es nicht leicht und gerade möchte wohl niemand in eurer Haut stecken.“ Ihr. Wir. Junge Familien, die in den Städten, in denen wir studierten, wohnen blieben und dort eine Familie gründeten. Ohne die Nähe zu anderen Verwandten. Ohne viel Unterstützung. Und doch leben wir in Wohlstand und relativ großer Sicherheit. Ich bin gleichermaßen gerührt und schockiert von ihrem Mitgefühl.

Und so kommt es, dass viele unserer Verwandten uns und unsere Kinder seit über einem Jahr nicht gesehen haben und den Kindern damit fremd (geworden) sind. Manche kennen unsere Zwillinge noch nicht, dabei sind sie nun fast vierzehn Monate alt. Wir haben inzwischen eine Nichte/Cousine bekommen und kennen sie ebenfalls noch nicht. Das macht mich traurig.

Wie viele andere Eltern schreibe ich mittlerweile auf sozialen Plattformen unter dem Hashtag #coronaeltern, wie sich unser Alltag verändert hat und wie es sich anfühlt, das Leben in der Krise, dieses Alleingelassen sein. Kürzlich wurde ich zu diesem Thema interviewt:

#coronaeltern

Caroline Schmitt über Eltern in der Pandemie, ZDF, 21. Januar 2021

Und was ist mit den Kindern? Ich habe meine Therapeutin. Doch wen haben sie? Sie müssen mehr zurückstecken und mehr aushalten als alle anderen. Für sie sind ein paar Monate eine Ewigkeit. Emil fragt schon gar nicht mehr, ob er jemanden sehen darf. Er kennt die Antwort. Und Telefonieren oder einen Videoanruf machen, das liegt ihm nicht. Wenn er seine Freunde auf dem Bildschirm sieht, verstummt er und zeigt Desinteresse. Wie soll er also Kontakt halten?

Tilda und Paula sind es gewohnt, dass wir die Einzigen sind, die immer da sind, die Einzigen, die ihnen immer zur Verfügung standen und stehen. Warum sollten sie sich nun auf jemand anderen einlassen? Sich von jemand anderen trösten lassen? Wir sind ja da. Vor allem ich. Fast vier Wochen Eingewöhnung in einem kleinen Kinderladen, mit aktuell zwei Erzieherinnen und zwei anderen Kindern, und währenddessen nicht eine Sekunde ohne mich, zeigen mir, welche Spuren ihr erstes Lebensjahr inmitten der Pandemie hinterlassen hat.

Ich merke, dass ich in Gedanken radikaler werde, ich formuliere Forderungen an die Politik und an unsere Gesellschaft und sehe es ähnlich wie die Journalistin Theresa Bücker in ihrer SZ Kolumne:

Ist es radikal, wenn Eltern jetzt streiken?

Theresa Bücker über seelische Folgen der Pandemie
im Süddeutsche Zeitung Magazin, 19. Januar 2021

Wenn ich genau darüber nachdenke, was die Pandemie mit mir und mit meinem Sohn gemacht hat, dann habe ich vor allem einen Gedanken: Flucht. Ich fliehe in Gedanken aus der Stadt, aufs Land oder in eine kleinere Stadt, wo die fehlenden Vorzüge der Großstadt im Moment gar nicht auffallen, wo die familiäre Unterstützung lockt und wo Wohnraum für uns bezahlbarer ist.

Emil zieht sich nach Innen zurück, in seine eigene Welt. Er möchte von dieser neuen Realität kaum etwas wissen. Es fällt ihm schwer, sich auf Beziehungen einzulassen. Die einzige Sicherheit, die ihm bleibt, sind wir, seine Familie.

9 Gedanken zu “Abstriche

  1. Liebe Caroline, was die Pandemie für Kinder bedeuten kann, die in dieser Zeit oder kurz vorher geboren wurden, wurde mir erst durch Deinen Beitrag bewusst. Danke! Es gibt Familien, die sich, bewusst oder unbewusst, dafür entscheiden, die Gefahr, die derzeit von Kontakten ausgeht, ausgehen kann, zu ignorieren. Und wenn sie sich nicht gegenseitig anstecken, wird das Leben ihnen recht gegeben haben. Dieses „wenn“ hat uns dazu geführt, den Kontakt zu meinen Eltern nur noch telefonisch oder im Freien zu halten und dann mit Abstand, ohne Umarmungen. Seit fast einem Jahr. Meine neunjährige Tochter teilt das Leben derzeit in „vor“, „jetzt“ und „nach“ Corona ein („Weißt Du noch, wie das war, als wir in der Schule überall herumlaufen durften?“). Ich hoffe, es kommt bald das „nach“. Viele Grüße. Conny

    Like

    1. Liebe Conny. Irgendwo las ich kürzlich im Vorbeigehen – vielleicht an der Grundschule meines Sohnes – dass Nähe im Moment Distanz bedeutet. Daran musste ich bei deinem Kommentar wieder denken. Die, die wir lieben, halten wir momentan von uns fern, und umgekehrt. Danke für deine Worte. Ich hoffe eigentlich am meisten für unsere Kinder. Liebe Grüße, Carolin

      Like

  2. Liebe Caroline,

    es ist wirklich eine Katastrophe! Zum Thema Stadt / Land kann ich nur zustimmen – hier in der Klein(st)stadt hat man eine viel bessere Bewegungsfreiheit.
    Die Kinder sind wirklich dem Ganzen ausgeliefert. Ich wundere mich aber manchmal über den Pragmatismus, den sie an den Tag legen – da kann ich mir noch eine Scheibe von abschneiden. Das Leben im Hier und Jetzt, das Du beschreibst – das meine ich auch.
    Beim Thema Planen muss ich immer an das Mascha Kalekos „Rezept“ denken und vorallem an diese Zeilen:

    Zerreiß deine Pläne. Sei klug
    Und halte dich an Wunder.

    In diesem Sinne… Liebe Grüße, Sara.

    Like

    1. Liebe Sara, das Gedicht habe ich mir gerade angehört. Das sind kluge Zeilen, vor allem die, die du auch hier aufgeschrieben hast. Danke dafür. Oh ja, von den Kindern können wir noch so viel lernen. Dennoch frage ich mich, was im Inneren mit ihnen passiert, und wie ihre kleinen Seelen wieder repariert werden können. Liebe Grüße (mit Sonnenschein) von Carolin

      Like

  3. Liebe Carolin, dass ist wirklich Wahnsinn was gerade passiert. Und was ihr als Familie mit Kleinkinder alleine stemmen müsst. Und jede Kindesalter, jede familiäre Situation bringt andere Probleme, Defizite und Konflikte mit sich, was das Lockdown betrifft. Ich habe ja große Kinder, von daher muss ich nicht wie du ständig präsent sein, aber ich mache mich auch Sorgen über ihre Entwicklung…Keine Bewegung, sie hocken nur noch vorm PC von früh bis Abends und ich kann ja nicht mehr mit sie rausgehen und spielen. Ich bin gerade sowieso total abgemeldet ( muss ja so sein), da entsteht auch so eine enorme Ohnmacht. Ich kann einfach nichts tun. Und doch haben sie es gut, mit Internet und Zugang zur Bildung. Ich arbeite in einer Gemenschaftsunterkunft für Geflüchtete als Kinder und Jugendbetreuerin. Da haben die Kinder zwar das Glück wenigstens soziale Kontakte zu haben…( weil die Familien meistens 6-7 Personen auf 45 m2 wohnen, treffen sich die Kinder immer drausen oder auf den Fluren, Corona hin oder her.) Aber es ist eine Katastrophe was sie bildungsmässig verpassen. Und wir können es nicht auffangen, dafür sind sie zu viele. Ich glaube es ist so wichtig, Sichtbar zu machen und darüber zu reden was die Lockdowns mit den verschiedenen Bevölkerungsgruppen macht. Und wichtic Fragen zu stellen ( auch wenn es möglicherweise keine Anwort darauf gibt). Das machst du in deinem Text sehr sehr schön. Und super mitm ZDF Interview und den Hashtag. Hier falls du Spiegelplus hast…Passt total zu was du schreibst. Ich wünsche euch viel viel Kraft..Liebe Grüsse Anneke

    https://www.spiegel.de/familie/corona-wie-kleinkinder-die-pandemie-erleben-es-gibt-analogien-zum-zweiten-weltkrieg-a-8967879e-2b30-4546-ae26-feae2d438b8f

    Gefällt 1 Person

    1. Liebe Anneke, ich danke dir für deinen Einblick und deine Gedanken zu meinem Text. Ich denke auch, dass man nicht gewichten kann, für wen diese Situation gerade am belastendsten ist. Ich kenne alleinstehende junge Erwachsene, denen es nicht gut geht und Familien mit kleinen Kindern, die total gut zurechtkommen. Ich kann mir vorstellen, dass du dich um deine Kinder sorgst, auch wenn sie schon größer oder sogar schon Jugendliche sind. Meine kleine Schwester ist 12, sie schottet sich zwar noch nicht von unserer Mama ab, aber ihr fehlen ihre Freunde und ihre Hobbys, das merkt man. Ich kenne mittlerweile viele Familien, die Ausnahmen machen. Ein Wochenende bei Oma und Opa. Ein oder zwei befreundete Familien sehen und die Kinder untereinander austauschen. Oder Notbetreuung in Anspruch nehmen, selbst wenn man es nicht unbedingt bräuchte. Einfach weil man es den Kindern nicht länger antun kann oder möchte. Weil man aus dem ersten Lockdown gelernt hat und das Soziale und die Entlastung manchmal eben wichtiger ist. Und das ist bei den älteren Kindern vielleicht auch das Schwierige: Sie müssen ja sowieso irgendwie alleine klarkommen, alleine lernen, alleine ihre Freizeit einteilen. Das passiert dann nicht mehr im Rahmen der Familie, und damit bricht auch etwas Wichtiges weg, finde ich. Deine Arbeit klingt auch unglaublich herausfordernd, vor allem unter den aktuellen Bedingungen. Es ist so wertvoll für die Kinder und Jugendlichen, dass sie Menschen wie dich haben. Ich konnte leider nur den Anfang von dem Spiegel-Artikel lesen, aber es klingt spannend. Ich finde es wichtig, dass über diese Themen gesprochen wird, dass vor allem wir Erwachsene die Kinder mitdenken, denn sie können noch nicht selbst für sich einstehen. Ganz liebe Grüße, Carolin

      Like

      1. Vielen Dank für deine Antwort liebe Carolin…ich glaube du hast recht…Und trotz allem habe ich so Respekt für Eltern kleineren Kita- und Grundschulkinder..Das ist so hart alles abfedern zu müssen…Ganz liebe Grüsse Anneke

        Gefällt 1 Person

  4. Liebe Carolin,
    Vielen Dank, dass du deine Perspektive nicht nur hier auf dem Blog mit uns teilst, sondern auch für das ZDF – ich habe den Artikel da gerade auch noch gelesen. Ich finde es immer wieder krass, die verschiedenen Coronaperspektiven im Moment zu hören, einfach weil ich das Gefühl habe: keinem geht es mehr gut. Niemand hat mehr Bock, oder Energie, und für Familien ist es schon viel früher schwieriger und enger geworden. Es ist auch hart zu lesen, wie sehr es schon deine Kinder beeinflusst, indem sie andere Kontakte nicht kennen oder sich zurückziehen, gar nicht mehr fragen. Das ist super schockierend und ich kann mir vorstellen, dass selbst, wenn Kitas wieder öffnen, das die Sachen erstmal nicht leichter macht. Ich glaube, selbst wieder – sollte es das in absehbarer Zeit überhaupt geben – in ein Normal zurückzufinden, wird super schwer. Ich wünsche dir und deiner Familie trotz allem viel Kraft und die Möglichkeit, vielleicht bald auch aus Berlin rauszukommen.

    Liebe Grüße,
    Jasmin

    Like

    1. Liebe Jasmin, danke für deine lieben, mitfühlenden Zeilen. Tatsächlich fühlt sich alles nach einem sonnigen Wochenende nur noch halb so schlimm an. Ich glaube, wenn wir das Leben wieder mehr nach draußen verlagern können, wird es erträglicher. Was das alles langfristig mit unseren Kindern macht, können wir jetzt wahrscheinlich nur erahnen. Aber wir geben ihnen so viel wir können und ich bin mir sicher, dass sie das merken. Liebste Grüße, Carolin

      Like

Hinterlasse einen Kommentar