Durchhalten

Ich stopfe mir ein Stück Kaffeeschokolade in den Mund und nehme anschließend einen großen Schluck Wein.
Ist das schon Selbstfürsorge?

Der Boden unter meinen Füßen wackelt. In den letzten Tagen spüre ich immer häufiger dieses mir bekannte Gefühl der Ohnmacht. Wenn mich jemand anspricht, kann ich nicht gleich reagieren. Ich muss zunächst zu mir kommen, wieder ankommen, im Hier und Jetzt. Alles fühlt sich so weit weg an, obwohl es direkt neben mir ist, mich einnimmt und auffrisst. Geweint habe ich schon lange nicht mehr, auch wenn innerlich die Dämme brechen. Ich bleibe stark und gefasst.

Manchmal fühle ich mich wie eine schlechte Mutter, die nicht richtig zuhört und an allem etwas auszusetzen hat. Wie eine schlechte Partnerin, die immer nur halb anwesend ist und das Gute gerade kaum erkennen kann. Wie eine schlechte Enkelin, der ein zehnminütiges Telefonat pro Woche mit Opa schon zu viel ist und die gerade froh um die große Entfernung ist. Wie eine schlechte Freundin, die halbherzig oder gar nicht auf Nachrichten antwortet und vor allem nur ihre eigenen Sorgen sieht.

Was gerade fehlt, sind Pausen. Neulich las ich, dass Menschen, vor allem Eltern, verlernen, Pausen zu machen. Wir bemühten uns jahrelang um ein bedürfnisorientiertes Familienleben, doch was ist eigentlich mit unseren eigenen Bedürfnissen? Haben die noch eine Daseinsberechtigung? Hauptsache, die Zwillinge schlafen mal gleichzeitig eine Stunde am Stück, denke ich. Dafür schiebe ich sie durch den matschigen Park, halte meine Blase an und traue mich nicht, noch einen Schluck zu trinken, bis meine Kehle brennt und mein Kopf hämmert.

Was gerade fehlt, ist Hoffnung. Heute Morgen berührten mich die Sonnenstrahlen und ich dachte: alles wird gut. Nun ist der Himmel wieder Grau und ich frage mich, wo die Hoffnung hin ist. Ich suche sie in meiner Jackentasche, in meiner Kaffeetasse, in den Augen meines Freundes. Alles sieht so verschwommen aus, nichts ist klar.

Ich frage mich, wann ich zuletzt glücklich und unbeschwert war. Ich frage Jonas, der neben mir sitzt und arbeitet. Er schaut mich an und sagt: „Als wir vor ein paar Wochen Sushi bestellt haben.“ Ich schlucke und beneide ihn um sein kleines großes Glück. Meine Antwort hängt an der Wand in unserem Wohnzimmer. Juni 2018, als wir zu dritt mit einem roten Campingbus bis nach Südfrankreich fuhren und ich vieles um mich herum vergessen konnte. „Bist du nicht auch glücklich, wenn es den Kindern gut geht?“ fragt er mich. Doch, schon. Wahrscheinlich erwarte ich zu viel und sehne mich nach dem gefühlt unerreichbaren großen, langanhaltenden Glück.

Ich kann nicht anders, als auch immer das große Ganze zu sehen. Die Realität neben den rosanen Wolken. Die Zigarettenstummel im Treppenhaus. Den Dreck auf dem Fußboden. Den Abwaschberg in der Küche. Die Zahlen auf dem Konto. Unbeschwertheit liegt mir nicht. Ich ziehe das Schwere magisch an und bin zu oft gefangen in meinen grauen Gedanken. Ich weiß das. Vor allem weiß ich, dass es auch anders geht. Dank Jonas.

Ich schaue aus dem Fenster. Sonne. Mittlerweile habe ich gelernt, wie ich die Ohnmacht in den Griff bekomme. Nicht mit Kaffeeschokolade oder Wein, wobei ich darauf manchmal auch nicht verzichten mag, nicht jetzt. Ich schaue mir Bilder der letzten Woche an. Wir haben viel gelacht. Ich überlege, was wir alles geschafft haben, auch wenn nichts davon zu sehen ist. Ich mache mir eine Liste mit Dingen, die schön waren und auf die ich mich freue. Kleine Dinge.

11 Gedanken zu “Durchhalten

  1. Mir geht’s ganz genauso, Dorothee!

    Deine Texte, Carolin, sind so genau richtig, so genau richtig feinfühlig, so genau richtig ehrlich, so genau richtig lang, so genau richtig auf den Punkt. Großartig!
    Liebe Grüße, Lisa

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  2. Liebe Carolin,
    beim Lesen dieses Textes möchte ich am liebsten dem inneren Impuls folgen dürfen, Dich in den Arm zu nehmen, Dir ein wenig Zuversicht zu schenken und Dir zu sagen, es wird wieder eine Zeit kommen, wo Du aufatmen kannst, wo Du ein wenig ME-Time erhältst, wo Dir das Lächeln Deiner Kinder das größte Glück bedeutet und Du keinen Moment missen möchtest, egal wie schwer er auch gewesen sein mag, und das obwohl wir uns im Grunde nicht kennen, ich aber doch meine, ein wenig über Dich in Deinen berührenden, starken Texten, die so aufwühlen, mir Gänsehaut verschaffen, mich still in mich hineinweinen lassen, mich an meine Tochter erinnern, als sie noch klein war und ich mit ihr allein, meine Eltern weit weg … kennengelernt zu haben. Wenn ich das so ausdrücken darf. Ich hege allergrößte Hochachtung vor den Müttern, die Mehrlingsgeburten hatten und denke, wie knapp ist es wohl bei mir gewesen, wenn man der Genetik Glauben schenken darf. Ich finde es schön, wie Du Dir selbst Mut und Zuversicht zusprichst und Kraft aus den kleinen Dingen schöpfst und ich wünsche Dir, dass gerade diese innere kleine Stimme der Zuversicht immer dann erscheint, wenn Du sie brauchst, der Tag mal wieder düster und grau erscheint.
    Danke für das Teilen Deiner Gedanken und Gefühle, an denen ich bereits seit geraumer Zeit über diesen Blog teilhaben darf.
    Liebe Grüße,
    Katrin

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    1. Liebe Katrin, ich bin sehr gerührt von deinen mitfühlenden und bestärkenden Worten. Wow. Die innere kleine Stimme der Zuversicht, das klingt besonders schön. Ich werde an sie denken. Danke dir. ❤
      Liebe Grüße von Carolin
      (P.S. Ich musste bei dem Wort "Impuls" schmunzeln, weil es so zu dir und deinem Blog gehört und passt.)

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  3. Liebe Carolin,
    das Entlanghangeln an den kleinen Dingen, wenn der Boden unter den Füßen wackelt. Dazu gehören Schokolade und Wein auch, genauso wie Fotos, auf denen man sich selbst lachen sieht. Pausen – ganz wichtig. Und Erinnerungen an Urlaube.
    Danke, dass Du das alles teilst – die Momente, in denen Du Dich schwach und müde fühlst und dann auch deine Strategien zur Bewältigung.
    In der Schwere liegt sehr viel Energie – es ist auch eine Zeit, in dem viel Wunderbares ausgebrütet wird – in ihrer Wucht liegt auch die Quelle der Kreativität. Wenn sie uns überkommt, dann kann sie lähmen und ersticken und dann formt sich unter diesem Druck viel Neues, das man vielleicht später erst richtig sieht und zu schätzen weiß…
    Mach das Sinn? Keine Ahnung. So habe ich es manchmal zurückblickend empfunden… empfinden wollen: Aus Krisen wachsen Wunder.
    Liebe Grüße, Sara.

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  4. Liebe Carolin, ich wünsche dir vom Herzen, wenn dieser Wahnsinn überstanden ist, dass ihr losfahren können, im roten Camper Richtung Süden, eure Zwillinge schlafen durch, Sonnenuntergang, ein Wein zur Zweit, Morgenkaffee im Sonnenschein ohne müde und kaput zu sein! Ganz liebe Grüsse Anneke

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